Die Beherrschung der herrschenden Meinung

Wie keine zweite Profession zeichnet sich die Juristerei durch Streit aus. Kein Wunder, sind doch Gerichtsverfahren mit dem Zwei-Parteien-Prinzip im Innersten auf Diskurs ausgelegt. Hinzu kommt der unbändige Systematisierungsdrang einer notorischen Ordnungswissenschaft, et voilà: wiederkehrende Meinungen der Juristen werden mit Gütesiegeln etikettiert, bevorzugt mit dem Kürzel „hM“. 

Aufgelöst kommt dahinter die sog. „herrschende Meinung“ zum Vorschein. Wer – fragt sich der Studienanfänger beim Erstkontakt mit der „hM“ leicht perplex – herrscht hier über wen?

Klarheit schafft eine etymologische Betrachtung. „Herrschend“ ist eine (Lehn-) Übersetzung des lateinischen Verbs dominare (seinerseits von domus abgeleitet) zurückführen. Das daraus hervorgegangene „dominant“ fügt sich schon sachgerechter in das Konzept einer schlicht übergeordneten, „heimischen“ Meinung ein.

Warum die gängige Diktion dennoch eine militärische bzw. machtpolitische Konnotation transportiert, kann die bewegte Geschichte der juristischen Meinungsstreite erhellen.


I. Rom

Solange die iurisdictio in der Hand Einzelner  (König, Priesterkollegium) lag, blieb eine Diskussion über Rechtsfragen naturgemäß aus. Eine unwidersprochene Autorität neben dem Gesetz, eine „hM“ im wahrsten Sinne des Wortes war die Folge. So verfügten die altrömischen pontifices über juristisches Geheimwissen in Gestalt der prozessualen Spruchformeln und konnten mithin ein Auslegungsmonopol beanspruchen (Einheitsmeinung).

Erst die stufenweise Öffnung dieser archaischen Sakralordnung für Laien konnte echte Meinungsstreitigkeiten hervorbringen, weil sie das Bedürfnis nach einem beratenden Juristenstand generierte. Bester Ausdruck des neuen Meinungspluralismus waren die aufkommenden wissenschaftlichen Literaturgattungen – man verfasste Streitschriften (quaestiones, disputationes) und vertrat in forensischen Gutachten (responsa) diametrale Ansichten. Als sich gar zwei Rechtsschulen formierten und ihre juristischen Differenzen (ius controversum) lebhaft untereinander austrugen, war der Meinungskampf vollends entbrannt. Namhafte Juristen, die von ihrer Schultradition dezidiert abwichen, konnten in diesen Kontroversen durchaus den Vorrang eines Standpunkts sichern (im Ganzen aber: Schulmeinungen). 

Prägend wurde daneben freilich erneut die Steuerung  von oben: so wertete der römische Kaiser die Stellung von Juristen massiv auf, indem er ihnen das sog. ius respondendi ex auctoritate principis zuerkannte. Wie die in den späteren Kaiserkanzleien beschäftigten Hofjuristen begaben sich die derart autorisierten Rechtsgelehrten oft in Abhängigkeit zum princeps, der sie zu seinem Sprachrohr innerhalb der Rechtspflege bestimmt hatte (vielfach: Hofmeinung). 

Mit dem Niedergang  der Reichsstrukturen wurde die strikte Regulierung der Streitkultur auf die Spitze getrieben. Eine Konstitution von Valentinian III. aus dem Jahre 426, gemeinhin als „Zitiergesetz“ bezeichnet, dampfte das Reservoir der Juristenmeinungen auf 5 Lichtgestalten (Gaius, Papinian, Paulus, Ulpian, Modestin) ein. Nur diese konnten vor Gericht herangezogen und gegeneinander aufgewogen werden, wobei Papinian in einer „Pattsituation“ die Rolle eines „Trumpfes“ einnahm. Richterliche Rechtsfortbildung war unter dem Einfluss eines solch pervertierten Autoritätsdenkens gänzlich verkümmert (Meinungsarithmetik). 


II. Konstantinopel

Auch im byzantinischen Reich („Ostrom“) wurde Meinungspolitik in Sachen Jurisprudenz betrieben. Von Kaiser Justinian (reg. 527-565) erhielten die sog. Kompilatoren (von compilare = der Haare berauben) bei den Gesetzgebungsarbeiten den Auftrag, die römischen Juristenschriften um sämtliche Kontroversen zu bereinigen. Den in besonderem Maße umstrittenen Rechtsproblemen nahm sich Justinian höchstpersönlich an und erließ zur widerspruchsfreien Klärung ein Konvolut aus quinquaginta decisiones. Darüber hinaus kanonisierte er die Juristenausbildung in einem festen Lehrplan, ausgerichtet an seiner Rechtssammlung (synthetische Einheitsmeinung). 

In der Folge konsolidierte die Bearbeitung und Anwendung des justinianischen Rechts – sei es dessen Paraphrasierung und Übersetzung (Bsp. Theophilos, Basiliken), sei es die Neufassung für die Praxis (Bsp. Ecloga) – im Wesentlichen die vorgebliche „aM“ der römischen Klassiker.

III. Ius commune

Mit dem wiedererwachten römisch-rechtlichem Interesse trat im späteren Mittelalter eine neuerliche Gewichtung von Juristenmeinungen unter scholastischen Vorzeichen auf den Plan. Auf der Folie des justinianischen Digestentextes entwickelte sich gar die Literaturform des Kontroversenberichts (dissensiones dominorum). Dabei entsprach es dem Harmonisierungsstreben der Scholastik, die Verfasser umfassender Sammelwerke zu obersten Autoritäten zu deklarieren (qualitative Legistenmeinung).

So war Azos Codexsumme ein unentbehrliches Requisit jedes Praktikers (chi non ha Azzo, non vada in palazzo), die gigantische Glossa ordinaria des Accursius eine echte Rechtserkenntnisquelle und das Oeuvre von Bartolus nicht weniger als ein Abbild des Rechts (specchio del diritto). Residuen davon leben etwa in der Zivilrechtsordnung Südafrikas fort, wo Gerichte immer noch die humanistischen Traktate eines Grotius oder Voet zu Rate ziehen. Und auch hierzulande konnten epochale Werke wie das „System“ von Savigny oder das „Pandektenrecht“ von Windscheid der gesetzgeberischen „hM“ bei Entstehung des BGB ihren Stempel aufdrücken.

Durch eine explosionsartige Zunahme der rechtswissenschaftlichen Kommentiertätigkeit ging man sodann ab dem 16. Jahrhundert dazu über, Rechtsauffassungen mit ellenlangen Ketten aus Literaturzitaten zu stützen. Dieser stärker quantitative Ansatz wurde bald mit dem Begriff communis opinio doctorum belegt, um ihn herum entfaltete sich detaillierte Regeln zu Zitierfähigkeit und Gewichtung im Einzelfall.

Die hoheitliche Reaktion auf die Flut von Begleitschriften mit etwaiger forensischer Resonanz war – übrigens schon bei Justinian – der Erlass von Kommentierungverboten. Derartige Vorschriften sind beispielsweise noch dem napoleonischen Code civil (1804) oder dem bayerischen Strafgesetzbuch (1813) beigegeben. Das Insistieren auf der unbedingten Geltungskraft des Gesetzes hat freilich der juristischen Meinungsmache keinen Einhalt gebieten können. 

IV. Heutige Einbettung

Somit ist die communis opinio noch heutzutage greifbar: als „hM“, mitunter auch als „hL“. Wie das weitgehende Fernbleiben von Gerichtsentscheidungen aus der vorstehenden Darstellung gezeigt hat, ist sie gerade kein Phänomen der Präjudizienbindung wie im common law. Gewiss, Obergerichte wurden (Bsp. RKG, Rota) und werden (Bsp. BGH, BVerfG) auch in Systemen des civil law in aller Regel als wichtigste Träger der „hM“ ausgewiesen. Denn bei ihnen tritt die global geführte juristische Debatte im konkreten Lebenssachverhalt zutage, sie besetzen einen verfassungsrechtlich und diskurstheoretisch privilegierten Standort der Meinungsbildung. Doch sind auch sie dem Grunde nach in einer fortwährenden wissenschaftlichen Diskussion verankert, deren Credo lauten sollte:

Bisogna lottare per il Diritto – L. Paladin

Weiterführende Literatur:

  • LTO v. 23.10.2011
  • C. Djeffal, ZJS 2013, 463-466


Gregor
geb. 1996, Jura-Student aus München, zurzeit im Master of Laws. Besonderes Interesse an Themen der Rechtsgeschichte, des Verfassungs- und des Medienrechts, daneben fasziniert vom selbsternannten Kanon der "British origin sports" (Badminton, Darts, Golf, Snooker, Tischtennis). To sum up: your basic legal thinker!

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