Inmitten nicht endend wollender Kritik am Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG – BGBl. I, S. 3352-3355) tut Reflexion über die angehäuften Bedenken, tut gleichsam eine Kritik der Kritik not. Dem hat Maximilian Amos auf LTO.de abgeholfen und sich übersichtlich mit einigen Gemeinplätzen zum NetzDG auseinandergesetzt.
Punkt 5 seines Syllabus errorum, das NetzDG sei nichts anderes als eine (indirekte) Zensurmaßnahme des Gesetzgebers, möchte ich an dieser Stelle um eine historisch-logische Entgegnung erweitern.
Zuerst gilt es festzuhalten, was überhaupt moniert wird. In nuce richtet sich der Zensur-Vorwurf (bereits hier erhoben) nämlich auf nicht weniger als die materielle Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Schließlich formuliert das Grundgesetz in Art. 5 Abs. 1 S. 3 unmissverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt“. Einer erfolgreichen Normenkontrolle zum BVerfG, gestützt auf eine Verletzung der Meinungsfreiheit und folglich auf die Unvereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 GG, stünde demnach nichts im Wege.
Seltsam, denn noch schweigt Karlsruhe zum NetzDG. Und es wird offenbar, woran der vorschnell formulierte, aber umso schwerer begründbare Zensur-Vorwurf substantiell leidet. Einmal an einem definitorischen Problem: es ist schlicht nicht belastbar, beim Rechtsbegriff Zensur von dessen allgemeinsprachlicher Verwendung – jede Form der Überprüfung von schriftlich getätigten Meinungsäußerungen – auf seinen verfassungsrechtlichen Gehalt zu schließen.
Ein derartiger Vorgriff übergeht das BVerfG als Verfassungsinterpreten (vgl. Art. 93 GG). Seit 1972 wurden der Zensur vom höchsten deutschen Gericht feste Konturen gegeben: die (gemäß Art. 5 Abs. 2 GG rechtfertigungsbedürftige) Einschränkbarkeit der Meinungsfreiheit endet dort, wo gesetzlich ein Verfahren zur Vorlage von Werken vor ihrer Veröffentlichung vorgeschrieben ist – oder dem zumindest unzweifelhaft Vorschub leistet.
Allein nach dieser Prämisse ist das NetzDG konkret zu beurteilen. Gelangt man so aber zur conclusio „Zensurgesetz“? Die in Frage kommende Bestimmung in § 3 NetzDG, welche mit dem Jahreswechsel 2017/18 (§ 6 Abs. 2 NetzDG) in Kraft getreten ist, kann dem ersten Anschein nach nicht für den Befund einer Vorzensur motiviert werden. Denn Gegenstand des betreiberseitig geforderten Beschwerde- und Sperrverfahrens innerhalb bestimmter Fristen sind bereits abrufbare „Postings“, die
- situativ in einem allgemeinen sozialen Netzwerk, d.h. einer kommerziellen Internetplattform mit „Share“-Funktion und mehr als 2 Mio. Usern zu finden sind (§ 1 Abs. 1, 2 NetzDG) und
- inhaltlich einen in § 1 Abs. 3 NetzDG enumerierten Straftatbestand, besonders ein Beleidigungs- oder Staatsgefährdungsdelikt ohne Unsicherheiten i.S.d. § 3 Abs. 2 Nr. 3a NetzDG verwirklichen.
Ein weiteres Problem – der komplexe Wortlaut nicht nur des § 3 NetzDG und die resultierenden Fehlschlüsse der Kritiker – lässt sich an historischen Gegenbildern pointiert veranschaulichen. Als „Zensurgesetz“ par excellence wird übereinstimmend das Preßgesetz des Deutschen Bundes vom 20. September 1819, Ausfluss der sog. „Karlsbader Beschlüsse“, gesehen. Darin heißt es einleitend
§ 1 S.1 Solange als der gegenwärtige Beschluß in Kraft bleiben wird, dürfen Schriften, die in der Form täglicher Blätter oder heftweise erscheinen, deßgleichen solche, die nicht über 20 Bogen im Druck stark sind, in keinem deutschen Bundesstaate ohne Vorwissen und vorgängige Genehmhaltung der Landesbehörden zum Druck befördert werden
Wurden damals faktisch die Programmschriften der national-liberalen Bewegungen „vorgängig“ unterbunden, ist 200 Jahre später im pluralistischen Staat des Grundgesetzes (vgl. nur Art. 5 Abs. 2 GG – allgemeine Gesetze) kein Raum für die gesetzliche Bekämpfung eines bestimmten Standpunkts, erst recht nicht einzelfallartig (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG). Wer sich insoweit veranlasst sieht, einen parteipolitischen Überbau aus dem NetzDG zu destillieren, sollte in der Lage sein, klar zwischen abstrakt-genereller Norm und vereinzelter Anwendungspraxis zu trennen.
Vorschriften mit Zensurcharakter wurden auch in Weimarer Zeit forciert, wobei man über das Zensurverbot in Art. 118 Abs. 2 WRV jenseits der Ausnahmefelder „Lichtspiele“ sowie „Schmutz- und Schundliteratur“ hinwegging. 1922 wurde trotz des Verfassungsverstoßes das berüchtigte (erste) Republikschutzgesetz erlassen, welches ein temporäres Verbot von Periodika zuließ, sofern sie zu Attentaten auf die Regierung aufriefen:
§ 21 Abs. 1 S.1 Wird durch den Inhalt einer periodischen Druckschrift die Strafbarkeit einer der in den §§ 1 bis 8 bezeichneten Handlungen begründet, so kann die periodische Druckschrift, wenn es sich um eine Tageszeitung handelt, bis auf die Dauer von vier Wochen, in anderen Fällen bis auf die Dauer von sechs Monaten verboten werden.
Wie bei der Karlsbader Gesetzgebung ist die Regelungsintention in politischen Umtrieben v.a. deutschnationaler Couleur – so der damalige Justizminister und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878-1949) nicht ohne Bedenken – zu suchen. Flankiert wurde § 21 des Gesetzes von einer Befugnis zur Beschlagnahme des Druckwerks (§ 20), womit im NetzDG funktional die Sperrung des Inhalts korrespondiert. Beide Regelungsregimes knüpfen ferner an staatsgefährende Taten als Voraussetzung an, wobei das Republikschutzgesetz freilich diese Delikte erst selbst nebst zugehöriger Sondergerichtsbarkeit schafft. Auch wird man sich schwer dabei tun, einen Konnex zwischen vorübergehenden Presseverboten und einzelnen Sperrungen herzustellen, weil erstere bei genauerer Betrachtung gleichfalls als Vorzensur, etwa für die Inhalte der nachfolgenden Zeitungsausgaben, gelten muss.
Nach dieser Kontextualisierung kann eine unmittelbaren Zensurwirkung des NetzDG ausgeschlossen werden, wie sie die vergangenen zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte streckenweise durchzog. Damit sind jedoch keineswegs mittelbar grundrechtsverkürzende Effekte ausgeschlossen, zumal das NetzDG private Betreiberfirmen in die Pflicht nimmt. Verfassungsdogmatisch hat sich hierfür seit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7,198) die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte herausgebildet, welche als objektive Werteordnung auf den Privatrechtsverkehr ausstrahlen. Ob dieser Umstand schon eine private Vorzensur indiziert, hängt von den Sperrsystemen ab, auf welche die Netzwerkbetreiber einzeln oder eine sog. „Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung“ (§ 3 Abs. 6 NetzDG zu dieser Monströsität) als übertragene Angelegenheit verfallen – wiederum eine Frage der Praxis.
Isoliert besehen ist das NetzDG für mich mithin kein „Zensurgesetz“, was nicht heißt, dass es in seinen sonstigen Punkten mängelfrei wäre. So kann der Unterschied zwischer einfacher und evidenter Rechtswidrigkeit in § 3 Abs. 2 Nr. 2/3 NetzDG (relevant für die Sperrfristen) Kopfzerbrechen bereiten, was gewisse Anforderungen an das Judiz der Beschwerdeorgane stellt. Schlimmer noch: er kann in Overblocking „auf Verdacht“ aus Angst vor Sanktionen einmünden, was es um jeden Preis zu verhindern gilt. Es bleibt zu hoffen, dass sich hierbei in Zweifelsfällen ein Vorrang von Kommunikationsfreiheit gegenüber Persönlichkeitsschutz einstellt.
Weiterführende Links
- Mathias HONG: Das NetzDG und die Vermutung für die Freiheit der Rede, VerfBlog 2018/1/09